Leseprobe aus “Der kleine schwarze Fisch” von Samad Berangi
Der kleine schwarze Fisch

Es war in der vierzigsten Winternacht; in der Tiefe des Sees hatte Großmutter Fisch 12.000 ihrer Kinder und Enkelkinder um sich versammelt, um ihnen ein Märchen zu erzählen:

Es war einmal ein kleiner schwarzer Fisch. Er lebte mit seiner Mutter in einem Bach, der aus den Felswänden sprang und in das Tal hinabstürzte. lhr Haus lag hinter einem schwarzen Stein und war mit einer Algendecke bedeckt, unter der sie nachts schliefen. Seit eh und je sehnte sich der kleine Fisch danach, den Mond in ihrem dunklen Haus erstrahlen zu sehen und sei es auch nur für ein einziges Mal.

Von morgens bis abends schwammen Mutter und Kind zusammen, gesellten sich ab und zu zu den anderen Fischen und flitzten in dem engen Gewässer hin und her. Der kleine schwarze Fisch war ein Einzelkind. Von den zehntausend Eiern, die die Mutter gelegt hatte, war es als einziges gesund am Leben geblieben.

Seit einigen Tagen war der kleine Fisch nachdenklich. Er sprach sehr wenig. Lustlos und träge glitt er auf und ab und blieb oft hinter seiner Mutter zurück. Mutter Fisch sorgte sich um ihr Junges und dachte, er sei ein bisschen krank und würde bald wieder gesundwerden. Der kleine schwarze Fisch aber war nicht krank, ihm fehlte etwas ganz anderes.

Eines frühen Morgens – noch war die Sonne nicht aufgegangen – weckte der kleine Fisch seine Mutter:

»Mutter, ich muss mit dir sprechen!«

Die Mutter war noch schlääfrig und erwiderte ihm:

»Liebes Kind, muss das ausgerechnet jetzt sein? Das hat doch Zeit, wollen wir jetzt nicht lieber zuerst einmal spazieren schwimmen?«

»Nein, Mutter, ich kann nicht mehr spazieren schwimmen, ich muss fort von hier.«

»Musst du unbedingt fort?«

»Ja, Mutter, ich muss fort.«

»Aber wohin willst du denn zu so früher Stunde?«

Der kleine schwarze Fisch erwiderte:

»Ich will herausfinden, wo das Ende des Baches ist. Weißt du, Mutter, ich beschäftige mich schon mehrere Monate mit der Frage, wo er endet, doch bis heute habe ich keine Antwort darauf gefunden; die ganze Nacht habe ich kein Auge zugemacht und habe ständig hin und her überlegt. Jetzt bin ich entschlossen, mich selbst auf den Weg zu machen, um die Mündung zu finden. Ich möchte gerne wissen, was es anderenorts alles gibt.«

Die Mutter lachte:

»In deinem Alter hatte ich ähnliche Gedanken, mein Kind. Der Bach hat doch keinen Anfang und kein Ende, das hier ist alles, der Bach fließt und fließt und endet nirgends.«

Der kleine Fisch antwortete:

»Liebe Mutter, alles hat doch ein Ende, der Tag, die Nacht, der Monat, das Jahr …«

Die Mutter unterbrach ihn:

»Schwing nicht so große Reden, steh lieber auf, jetzt wird spazieren geschwommen und nicht gequasselt.«

»Nein, Mutter, es langweilt mich, immer nur auf und ab zu schwimmen, ich mache mich auf den Weg, um herauszufinden, was es alles gibt. Vielleicht denkst du, jemand hat deinem kleinen Sohn diese Gedanken eingeredet. Du musst aber wissen, dass ich mir darüber schon sehr lange den Kopf zerbreche. Natürlich habe ich auch manches von anderen gelernt, zum Beispiel, dass die meisten Fische im Alter sich über die Sinnlosigkeit ihres Daseins beklagen. ständig jammern sie und verwünschen alles und jedes. lch aber will erfahren, ob Leben tatsächlich nur heißen kann, tagtäglich in diesem engen Gewässer auf und ab zu schwimmen, bis man alt wird, oder ob man auf der Welt auch anders leben kann.«

Die Mutter antwortete erregt:

»Liebes Kind, ich glaube, dich sticht der Hafer. was soll das: Die Welt, die Welt! Die Welt ist nur hier, wo wir sind, und das Leben ist nur das, was wir führen.«

Der kleine schwarze Fisch